Es ist nicht das erste Mal auf meiner Reise durch das bilderbuchreife Neuseeland, dass ich zurück in Christchurch bin. Eine Stadt, die in eben jene Bilderbücher über den atemberaubenden Inselstaat eigentlich gar nicht so recht reinpasst. Denn seitdem im Februar 2011 ein schweres Erdbeben die Metropole erschütterte, prägen zerfallene Häuser und Grünflächen das Stadtbild. Für viele Neuseeland-Reisende ist Christchurch nur ein kurzer Zwischenstopp, um den Flug in die Heimat zu erwischen. Warum ich die Stadt dennoch ins Herz schloss? Das lest ihr hier:
Da stehe ich. Mitten im Stadtzentrum, das nicht existiert. Eine eingestürzte Kathedrale, die zum Wahrzeichen der Naturgewalt mutierte. Leerstehende Gebäude und Wolkenkratzer. Viele Grünflächen. Parkplätze. Hotels. Mehr ist nicht geblieben. Noch immer werden Gebäude abgerissen. Am anderen Ende der Stadt wachsen neue Wolkenkratzer aus dem Boden. Wer Ausschau hält, kann Kräne sehen, die sich am Horizont um ihre eigene Achse drehen. Es sind eigenartige Kontraste.
Während ich die Schautafeln rund um die Kathedralen-Platz studiere, lässt mich ein Hüne, dessen dunkler Vollbart seinen Mund komplett bedeckt, im ersten Moment aufschrecken. Richard ist interessiert, wo ich herkomme, da ich nicht wie die typischen Touristen aussehe, die aus dem Bus springen, Fotos schießen und genau so schnell wieder verschwunden sind. Wir kommen ins Gespräch.
Ich frage, was er so treibt und erfahre, dass er fast jeden Tag hier vor der Kathedrale anzutreffen ist. „Ich liebe es, Schach zu spielen“, erzählt Richard und zeigt mit seinem Zeigefinger auf lebensgroßen Schachfiguren, die in Reihe und Glied auf einem großem Spielfeld stehen. Schachmatt wurde er heute nur von einem guten Bekannten gesetzt.
Während mein Blick nur kurz zurück auf die Schautafeln schwindet, ergreift Richard das Wort und fängt an, von seinem Schicksal zu berichten. Das verheerende Erdbeben im Februar 2011 hat er hautnah miterlebt. Richard, der zu jener Zeit in einem schicken Bürogebäude im Zentrum arbeitete, war gerade von seiner Mittagspause zurückgekommen, als ein Erdstoß der Stärke 6,3 auf der Richterskala alles in Bewegung setzte. „Die darauffolgenden Minuten erinnerten an einen wahrgewordenen Katastrophenfilm á la Hollywood“, erzählt der Hüne. Eingestürzte Hochhäuser, schreiende und verletzte Menschen. Die Bilder sind schrecklich.
Nachdenkliche Stille macht sich zwischen uns breit. Es ist wieder Richard, der zu erzählen anfängt und es binnen weniger Sekunden schafft, der betrübten Stimmung eine neue Richtung zu geben: „Weißt du, ich bin unglaublich stolz auf diese Stadt, die sich in kürzester Zeit wieder aufgerappelt hat.“
Und genau dieses Gefühl, von dem Richard spricht, bekommt man an vielen Ecken dieser Stadt zu spüren. Straßenkunst, die Freiflächen füllt, hippe Unternehmen, die aus Bauwagen heraus ihre Burger verkaufen. Diese positive Stimmung, die einen erst beim genaueren Hinsehen erfasst, fühlt sich gut an und infiziert regelrecht.
Richard bleibt realistisch und prognostiziert, dass es wohl noch gut 20 Jahre dauern könnte, bis die Innenstadt wieder so wie früher pulsiert.
Um alles etwas zeitlich in Form zu bringen: Nach meinem Abstecher nach Fidschi landete ich wieder in Christchurch. Genauer im Hostel, das den Namen Foley Towers trägt. Hier, nicht unweit vom Stadtzentrum entfernt, hatte ich schon einige Nächte verbracht. Immer wieder holte mich die gemütliche Atmosphäre ein, die das Hostel so besonders macht. Ein Grund sind wohl die vielen netten Gesprächspartner, die aufgrund von Gelegenheitsjobs gerne einmal zwei oder drei Monate in Christchurch verbringen. Die Woche im zentral gelegenen Hostel kostet meist nicht mehr als eine kleine Zweiraum-Wohnung, die sich irgendwo außerhalb befindet.
Und selbst wenn man gerade erst aus dem Flieger gestiegen ist, sich über Boden unter den Füßen freut und nichts sehnlicheres als ein warmes Bett wünscht, wird dieser Plan prompt über den Haufen geworfen. „Schuld“ daran sind nette Zimmerkollegen, die einen auf Fish & Chips einladen. Schließlich in der Gemeinschaftsküche in ein tolles Gespräch verwickelt, gibt es so schnell kein losreißen.
Warum auch? Denn ein eben solches führte ich mit Anika, die eigentlich in Deutschland zu Hause ist. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste: Anikas charmantes Lächeln sowie letztlich auch alle Bewohner des Foley Towers sollten mich über die darauffolgenden Wochen noch etwas begleiten.
So ging es für mich nach Fidschi und einem kurzen Aufenthalt in Christchurch direkt zu Sebastian und Tracy, die nördlich, etwas außerhalb der Metropole leben. Der Bus benötigt ungefähr eine Stunde bis nach Kaiapoi, so wie der kleine Vorort heißt. Hier warteten neben den beiden Kindern der Familie Unger, Christian und Emily noch etwa 30 Hühner auf mich. Im Ausgleich für meine Hilfe im Haushalt sowie rund ums Haus, erhielt ich leckeres Essen und natürlich ein warmes Bett. Die Aufgaben variierten vom täglichen Füttern der Hühner sowie Gartengestaltung und Hausputz bis hin zum Kochen. Nichts also, was nicht machbar wäre.
Etwas mehr als zwei Wochen verbrachte ich mit Familie Unger. Und auch dieses Mal war ich denkbar glücklich über die gesammelten Erfahrungen und die Möglichkeit, einen Blick in das Leben der Familie zu werfen. Sebastian ist übrigens in Berlin aufgewachsen, später ausgewandert. Tracy stammt aus den Vereinigten Staaten, genauer Kalifornien und ist sehr um ihre Umwelt bemüht – sie setzt sich leidenschaftlich für Natur und Menschen ein. Nachwuchs Christian ist 7 Jahre alt, Emily 11 Jahre.
Besonders genossen habe ich die Ausflüge mit der Familie, die uns an einem Nachmittag an den zugefrorenen Lake Lyndon und an einem Abend zum Farbenfestival in das Zentrum Christchurchs führten.
Die Zeit bei Familie Unger ging rasend schnell vorbei. Für mich ging es anschließend wieder zurück ins Hostel. Zugegeben etwas Planlos verbrachte ich im Foley Towers einige Tage auf der Suche nach einer neuen Gastfamilie. Und hier kam es natürlich zum freudigen Wiedersehen mit der liebgewonnen Hostel-Familie.
So stiegen Anika und ich an einem Nachmittag in ein leerstehendes Gebäude ein und verfolgten auf dem Dach, wie traumhaft die Sonne bei frühlingshaften Temperaturen Stück für Stück am Horizont hinter einer Gebirgskette verschwand. Außerdem meisterten wir gemeinsam einen schicken Wanderweg, der uns einen tollen Ausblick über Christchurch gewährte.
Wie es der Zufall so wollte, rief mich Rupert einige Tage später an: „Martin, ich brauche dich und zwar am besten sofort!“, hallte es auf aktzentfreiem Englisch durch den Lautsprecher meines Smartphones. Ich hatte Rupert und Fionna einige Tage vorher eine Nachricht geschickt. Jetzt kam die prompte Antwort. Ich sagte natürlich zu. Mit einem weinenden Auge nahm ich im Hostel vorerst wieder Abschied.
Bei Rupert und Fionna verbrachte ich anschließend gut zwei Wochen. Beide sind beruflich als Anwälte tätig, arbeiten aber von zu Hause. Der Vorgarten von Familie Ward ist allein größer als drei Fußballfelder und verfügt über einen Tennisplatz.
Die Zeit bei Rupert und Fionna wird mir als besonders schön in Erinnerung bleiben. Beide sind in Christchurch aufgewachsen. Zusammen lebt das Paar erst seit einigen Jahren. Rupert hat zwei Mädchen und Fionna drei Mädchen mit in die Lebensgemeinschaft gebracht. Das Haus, in dem Rupert bereits seit 16 Jahren lebt, steht abseits der Kleinstadt Rangiora, die wie Kaiapoi, nördlich von Christchurch liegt.
Rupert hat eine unglaublich herzliche Art und Weise, kann Arbeit und Privates relativ leicht trennen und hat etwas Angst vor Kettensägen, obwohl er damit ordentlich durch seinen kleinen Wald fegt. Fionna, die kocht wie eine Weltmeisterin, hat mir aufgezeigt, wie interessant Familiengeschichte sein kann – an einem Abend vor dem Kaminfeuer hat sie mir ihre Wurzeln skizziert.
Ich verbrachte tagsüber die meiste Zeit damit, den Wald kahl zu schlagen, sodass man ganz gut durchlaufen kann. Außerdem galt es, eine Umrandung aus Backsteinen zu setzen. Über die paar gespannten Schnürre staunte Rupert nicht schlecht: „Deutsche Maßarbeit!“
Familie Ward war anschließend sichtlich erfreut Anika kennenzulernen. Die schaute nämlich zur Freude aller in Rangiora vorbei.
Für mich ging es kurz darauf noch einmal für einen Abstecher nach Christchurch, ehe ich langsam aber sicher die Segel in Richtung Norden setzte.
So legte ich einen Zwischenstopp in Kaikoura ein, nahm anschließend die Fähre nach Wellington um wieder die Nordinsel unter den Füßen zu spüren. Hier kam es zu einem schönen Wiedersehen mit Gulnara, die ich auf Fidschi kennengelernt hatte.
Für die darauffolgenden zwei Wochen hüpfte ich wieder in Overall, Gummistiefel und auf’s Motorrad. Denn ich legte noch einmal bei John und Karyne sowie Johnny und Anna einen gut zweiwöchigen Besuch ein.
Dieses Mal war ordentlich Muskelkraft gefragt. Denn die vielen kleinen Kälbchen, die in den zurückliegenden Tagen das Licht der Welt erblickten, mussten nicht nur von A nach B transportiert, sondern auch regelmäßig sortiert und natürlich gefüttert werden. Außerdem half ich Johnny bei einer abendlichen Geburt: Mitten auf dem Feld, im Scheinwerferlicht des Jeeps zogen wir gemeinsam ein Kalb geradewegs aus dem Leib von Kuh 344.
Wer hat eigentlich mit den Kalenderblättern gespielt? Meine Zeit in Neuseeland neigt sich tatsächlich dem Ende entgegen. Am 6. September geht mein Flieger, der mich in Australien, genauer Melbourne, absetzen wird.
Die restlichen Tage werde ich nun rund um Auckland verbringen. Bis dahin! 😉
Hallo Martin!
Toll wieder ein sehr schöner Beitrag und sehr schöne Bilder. Liebe Grüße aus der Heimat von Papa und Sissy Maus. Küsschen
Hallo Martin,
nun sind es noch 11 Tage und die Heimat hat Dich zurück und vorallem Deine Mum und Deine Oma. Es hat immer viel Spaß gemacht Deinen Schilderungen zu folgen und mitzuerleben, was Du alles gesehen und erlebt hast. Ich möchte das Du weißt, dass ich Deine Reise mit viel Freude und Interesse verfolgt habe. Ich glaube, Du bist während dieser Zeit gereift und kannst enorm viel daraus für Dich mitnehmen. Ich freue mich für Dich und Deine Mum, dass Ihr Euch schon bald wieder in die Arme fallen könnt und bin mir sicher, dass es ein sehr emotionaler Empfang sein wird. Ich wünsche Dir eine angenehme Rückreise und ich hoffe, dass Du wieder sauber Fuß fasst in der Heimat.
Sei ganz lieb gegrüßt
vom BadN